Bevor Du gleich etwas einwenden möchtest, halte einen Moment inne und versuch‘ Dir ganz genau vorzustellen, wie das wäre, wenn Du mit der größten inneren Bereitschaft, die Du überhaupt nur in Dir aufbringen kannst, einem Text begegnest.
Wie würdest Du dann lesen – und noch viel wichtiger: wie würdest Du verstehen?

Ich bin mir ganz sicher, eins wäre anders: Du würdest nicht gleich kopfschüttelnd urteilen, dass dieser Autor ja überhaupt keine Ahnung habe, dieser Roman ja nur ein remake früherer Erzählungen sei oder dieses Gedicht vollkommen unverständlich bliebe.
Vielleicht tust Du das ja sowieso nicht, bist aber dafür immer ein wenig abgelenkt, zugleich beim Lesen und schon wieder in anderen Gedanken, so dass Dir entgeht, was der Text Dir  zwischen den Zeilen, im Verborgenen, zu sagen hat.
Wenn es Dir gelingt, diese konzentrierte, staunende innere Bereitschaft aufzubringen, dann erst kann ein Text wirklich zu Dir sprechen. Und dann wird er Dir Neues offenbaren können, selbst wenn er über Dir längst Bekanntes spricht. Du wirst eine Verbindung, eine andere Herleitung oder Begründung, eine besondere sprachliche Wendung heraushören, die Dir neu und ungewohnt ist und Dich ins Denken bringt.

Und genau darum geht es: wir sollten Texte lesen, um von ihnen inspiriert zu werden, selbst zu denken. Und das ist weniger selbstverständlich, als es aufs erste Lesen zu sein scheint.
Doch davon dann morgen mehr, wieder einmal mit Kollegen Kant.

Und Inspiration gelingt eben nur, wenn ich mit all meinen eingeübten Vormeinungen und Urteilen an mich halte, oder sie mir als solche ins Bewusstsein hebe, um dann ganz unvoreingenommen und frisch aufzunehmen, dass mir hier etwas gesagt werden will.
Und dann höre zu…!!

Gadamer, der große Lehrer der Hermeneutik, jener besonderen Kunst des Auslegens, von der ich dann übermorgen sprechen werde,  will uns genau dies hier ans Herz legen:
Mit offenen Ohren, freiem Herzen und ohne allen Vor-Urteils Ballast zu erlauben, dass uns jemand (hier der Text, es kann aber auch genauso gut ein anderer Mensch sein) etwas zu sagen hat.

Ich hoffe, so liest Du auch meine Texte – und gerne kannst Du mir hierzu auch antworten oder weiterführende Fragen stellen, und zwar unter info@kepia.de